Patriarchale Gewalt: «Alle kennen Opfer, aber die Täter schweigt man weg»

Nr. 37 –

Die Rechtsanwältin Christina Clemm vertritt in ihrer Streitschrift «Gegen Frauenhass» eine klare These: Gewalt gegen Frauen hat System. Im Gespräch erklärt sie, wieso das so ist, warum es andere Strafverfahren braucht und weshalb sie zwar wütend, aber nicht frustriert ist.

Portraitfoto von Christina Clemm
«Diese Gewalt gegen Frauen ist stabilisierend für unsere Gesellschaft. Sie wird gebraucht, um das patriarchale System zu stützen»: Christina Clemm. Foto: Alena Schmick

WOZ: Christina Clemm, Ihr neues Buch heisst «Gegen Frauenhass» – das ist ein deutlicher Titel und «Frauenhass» ein hartes Wort. Wie würden Sie diesen definieren?

Christina Clemm: Unser Leben durchzieht die starke Prägung einer binären Geschlechterwelt, in der die Idee vorherrscht, dass Frauen den Männern in bestimmten Bereichen unterlegen sind. Die erste Ausprägung dieser – nennen wir es Ideologie – ist Sexismus, also die Zuschreibung von Merkmalen aufgrund des Geschlechts. Das ist die Basis. Der Frauenhass gründet auf Sexismus, ist dann aber dessen aggressive Durchsetzung. Es ist eine Durchsetzung, die sich in vielen Kleinigkeiten ausdrückt und in ihrer radikalen Endform sogar bis hin zu körperlicher oder sexualisierter Gewalt geht, bis hin zur Tötung von Frauen.

Warum bringen Männer ihre Frauen oder Expartnerinnen um?

Oft, weil sie es nicht ertragen können, dass die Frauen sie verlassen haben oder nicht das tun, was sie wollen. Und das ist aus ihrer Sicht die angemessenere Reaktion: sie zu töten, sie nicht leben zu lassen, wenn sie keine Verfügungsgewalt über sie haben.

Anwältin und Autorin

Christina Clemm, geboren 1967, arbeitet als Fachanwältin für Straf- und Familienrecht in Berlin und vertritt seit Mitte der neunziger Jahre Opfer von sexualisierter Gewalt. Sie war Mitglied der Expert:innenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts des Bundesjustizministeriums und ist Autorin mehrerer Sachbücher zum Thema.

Oft wird gesagt, dass Gewalt gegen Frauen ein Problem männlicher Impulskontrolle sei. Sie selbst halten nichts von diesem Argument und auch nichts vom Begriff «Familiendrama».

Auch im maximalen Fall, bei einem Femizid, ist es in der Regel nicht so, dass er in einer akuten Situation aus dem Affekt heraus geschieht. Meist gibt es da schon eine lange Vorgeschichte von Misshandlungen und Gewalt, sodass Männer dann, wenn noch ein weiterer Auslöser hinzukommt, die Mordtat wirklich vollenden. Das Irritierende ist, dass die Emotionalität eigentlich dem weiblichen Geschlecht zugeordnet wird, aber in diesem Fall sollen es die Männer sein, die ihre Gefühle nicht im Griff haben.

Eine Ihrer Thesen im Buch lautet: Gewalt gegen Frauen – oder, wie Sie betonen: als Frauen gelesene Personen – ist keine Privatsache, sie beruht auf einem System, das solche Taten sozusagen stützt. Warum ist diese Gewalt möglich?

Wenn in Deutschland jeweils kurz vor dem 25. November die aktuellen Zahlen zu geschlechtsbezogener Gewalt herauskommen, sind alle immer furchtbar erschrocken und erschüttert. Aber das ändert nichts: Männer können diese Taten begehen, weil niemand sie stoppt. Weil niemand tatsächlich die erforderlichen Massnahmen dagegen ergreift. Weil es offenbar auch für die Täter eher hinnehmbar ist, vielleicht bestraft zu werden, manchmal auch erheblich bestraft, als auszuhalten, dass sie verlassen worden sind. Und weil sie in der Regel wissen, dass die Taten für sie oft folgenlos bleiben. Und auch das ist ein strukturelles Problem: Alle in unseren Umfeldern kennen Opfer von Gewalt. Irgendwie hat jede schon einmal gehört, dass eine Verwandte, eine Freundin, eine Bekannte betroffen ist oder war. Neulich erzählte mir eine Bekannte, dass eine Frau, mit der sie als Mädchen gemeinsam in der Kita war, umgebracht worden sei. Also wir alle kennen irgendwie jemanden. Aber eigenartig: Die Täter kennt niemand. Es wird totgeschwiegen, dass es die natürlich ganz genauso in unserem Bekanntenkreis gibt. Aber die Täter kommen nicht vor, sie werden weggeschwiegen.

«Alle, wirklich alle Frauen können betroffen sein. Und alle, wirklich alle Männer können Täter sein», heisst es in Ihrem Buch. Das läuft im Grunde gegen eine Mainstream-Intuition, die körperliche Gewalt eher in unteren Schichten vermutet.

Die Täter entstammen allen Herkünften, kommen aus allen sozialen Schichten, und man kann nicht sagen, es gebe eine bestimmte Gruppe, die ihre Frauen eher misshandelt. Nur ist die Gewalt an bestimmten Stellen sichtbarer. So sind zum Beispiel die Frauenhäuser überdurchschnittlich hoch mit migrantischen Frauen belegt. Das liegt aber nicht daran, dass sie häufiger Opfer von geschlechtsbezogener Gewalt sind, sondern dass sie weniger Ausweichmöglichkeiten haben als Frauen, die im Land selbst aufgewachsen sind und ein grösseres soziales Umfeld haben, womöglich auch die finanziellen Mittel, um nicht in ein Frauenhaus fliehen zu müssen. Auch bei den Femiziden lässt sich statistisch nicht nachweisen, dass sie überdurchschnittlich oft von Männern aus bestimmten sogenannten Kulturkreisen begangen werden.

Sie halten auch den Begriff «Ehrenmord» für fragwürdig.

Der Begriff ist rassistisch konnotiert. Wenn man in diesem Kontext den Ausdruck «Ehre» überhaupt plausibel findet – aber was soll das eigentlich sein? –, müsste man ihn auch für den weissen europäischen Mann verwenden, denn auch der handelt ja aus einem Gefühl der verletzten Ehre heraus, weil seine Frau ihn verlassen hat, weil sie – aus seiner Sicht sein «Besitz» – einfach macht, was sie will. Der Begriff «Ehrenmord» transportiert aber eine kulturelle Vorstellung und dient nur dazu, das Problem wegzuschieben: Täter sind die anderen, die Fremden. Ich will das nicht verharmlosen: Wenn grössere soziale Gruppen es richtig finden oder legitimieren, Frauen zu töten, müssen wir genau hingucken. Dafür brauchen wir aber keinen Begriff wie «Ehrenmord». Eher müssen wir Gewaltmuster analysieren und wirksame Massnahmen ergreifen, um Tötungen zu verhindern.

Welche Frauen erheben überhaupt Anklage? Sehen Sie da Unterschiede zwischen verschiedenen sozialen Schichten?

In meiner Praxis erlebe ich, dass Frauen, die finanziell bessergestellt sind oder auch mehr in der Öffentlichkeit stehen, seltener Anzeige erstatten, unter anderem, weil sie beruflich einiges zu verlieren haben. Eine Frau, die Karriere macht, die vielleicht Geschäftsführerin in einem grösseren Unternehmen ist, kann im Grunde nicht erzählen, dass sie misshandelt worden ist. Wenn eine «das mit sich machen lässt» – so wäre ja die gängige Meinung –, kann sie, so wird unterstellt, sicher keinen Betrieb führen. Es gibt in den bessergestellten Milieus also oft grössere Hemmnisse und ausserdem auch andere Wege, sich zum Beispiel über Anwält:innen zu einigen. Die Bereitschaft ist hier also nicht besonders gross, Anzeige zu erstatten, vielleicht auch im Wissen darum, was ein Strafverfahren am Ende bringt oder eben nicht bringt.

Zudem kann man sich vorstellen, dass im beengten Wohnumfeld eher mal die Nachbar:innen die Polizei rufen als bei der Villa am Stadtrand.

Ja, die Isolation ist da vielleicht auch noch mal grösser. Trotzdem kommen in meine Kanzlei tatsächlich Frauen aus allen, also wirklich aus allen gesellschaftlichen Schichten. Dabei muss man betonen, dass sich die Gewalt gegen Frauen, die auch noch von Rassismus, von Ableimus, Queerfeindlichkeit und anderem betroffen sind, potenziert und sie noch schlechteren Zugang zum Recht haben.

Müssten Gesetze geändert werden? Etwa in der Einschätzung dessen, was als Mord gewertet wird und was als Totschlag?

Es gibt in Deutschland diesen unsäglichen Mordparagrafen, der den «niederen Beweggrund» beinhaltet. Doch es ist immer eine Sache der Auslegung, was als «niederer Beweggrund» definiert und somit als Mordtat geahndet wird. Man könnte schon längst geschlechtsbezogene Tatmotive dazuzählen. Das grosse Problem ist: Wie entscheiden die Richterinnen und Richter? Wie sind die ausgebildet, was erkennen sie denn überhaupt als «geschlechtsbezogen»? Wir haben in Deutschland keinerlei Fortbildungsverpflichtung für Richter:innen.

Es gibt Vorschläge, Femizid als eigenen Strafparagrafen einzuführen. Würde das helfen?

Ich bin keine Freundin dieses Vorschlags, denn dann müssten wir auch für andere Tatbestände eigene Gesetze einführen, wie den Mord aus Rassismus, den Mord aus Transfeindlichkeit et cetera. Das ist nicht zielführend. Eher sollte man so etwas wie «geschlechtsbezogen» oder «rassistisch» stets als niedere Tatmotive ansehen und insgesamt die gesetzliche Behandlung von Tötungsdelikten reformieren. Bei Tötungsdelikten ist es aber wenigstens klar, dass der Staat eingreifen und erheblich reagieren muss, und er macht das auch. Viel grösser ist eigentlich das Problem beim Sexualstrafrecht oder noch mehr bei der sogenannten häuslichen Gewalt. Was ist denn da eine angemessene Folge der Tat? Welche Strafmassnahmen wären sinnvoll? Wenn man darüber nachdenkt, kommen Zweifel: Was bringt eigentlich das Strafrecht? Für wen ist das da, und ist es überhaupt im Sinn der Betroffenen? Was nützt es einer Frau, die von ihrem Ehemann geschlagen wurde, wenn der eineinhalb Jahre später eine Geldstrafe bekommt, die er dann am Ende bezahlt, wenn er überhaupt zahlen kann?

Das heisst, das bestehende Strafrecht nützt nicht viel?

Wir müssten viel mehr darauf schauen, worum es den Opfern von geschlechtsbezogener Gewalt überhaupt geht. Was bräuchten sie? Meine Mandantinnen formulieren das meistens sehr klar: Sie wollen Sicherheit, die Gewalt muss aufhören. Sie wollen eine staatliche Anerkennung des ihnen widerfahrenden Unrechts, vielleicht wollen sie Entschädigung. Und sie wollen, dass der Täter versteht, dass er nicht tun durfte, was er getan hat. Sie wollen auch, dass er dazu gebracht wird, es nicht wieder zu tun, weder ihnen noch anderen Personen gegenüber. Ich habe wirklich erstaunlich viele Mandantinnen, die Anzeige auch aus dem Wunsch heraus erstatten, anderen Frauen diese Gewalt zu ersparen.

Wie müssten sich die Strafverfahren ändern?

Die Verfahren müssten viel schneller gehen, es muss eine raschere Reaktion erfolgen. Sie müssten auch sehr viel näher bei den Beschuldigten sein. Natürlich steht die beschuldigte Person im Mittelpunkt, aber das ganze Verfahren dreht sich nur um die Glaubhaftigkeit der Aussage des Opfers: Was hat die verletzte Person eigentlich getan, gelassen, gesagt – all das wird auseinandergenommen, statt mal wirklich nachzuforschen, was denn mit den Beschuldigten ist, also tatsächlich mal deren Computer, die Handys zu durchleuchten, nachzuforschen, was die denn sonst noch gemacht haben, wo sie sich rumtreiben, wie sie sich verhalten, ob sie etwa Plattformen mit misogynen Inhalten nutzen, geschlechtsbezogene Gewalt verherrlichen, Frauenverachtung posten und so weiter. Mich interessiert vor allem, wie man Sicherheit vor ihnen schaffen kann, dafür muss man näher an den Tätern bleiben und ihr Verhalten ändern.

Aber es gibt doch Massnahmen, einen Gewaltschutzbeschluss etwa, sodass der Täter nicht in die Nähe des Opfers kommen darf.

Ja, es gibt den Beschluss, und dann passiert genau gar nichts mehr.

In Spanien gibt es zum Beispiel Fussfesseln für die Täter, sodass man sie besser kontrollieren kann. Man könnte auch anordnen, dass jede Woche eine Polizistin beim Täter vorbeischaut oder Gespräche mit einem Sozialarbeiter stattfinden: «Wir reden jetzt hier mal eine Stunde, wie verhalten Sie sich eigentlich? Was denken Sie jetzt? Waren Sie noch mal in der Nähe des Opfers?» Also einfach näher dran sein und nicht einfach gewähren lassen und abwarten, ob vielleicht noch mal etwas passiert. Manchmal denke ich auch, es wäre viel wirksamer, den Tätern ihren Grill wegzunehmen oder ihr Auto. Eine solche Strafe würde sie mehr schmerzen als nach Jahren irgendeine Verurteilung, die niemanden wirklich trifft. Und wir brauchen natürlich ausreichend und professionelle Täterarbeit.

Der Ton Ihres Buches ist zugleich wütend und kühl erfahrungsgesättigt. Mit welchem Impuls haben Sie es geschrieben?

Ich arbeite seit fast dreissig Jahren im Bereich geschlechtsbezogener Gewalt, und seit genau dieser Zeit empören wir uns darüber, dass so wenig geschieht. Es gibt ein paar neue Gesetze, es gibt Bekundungen, wie schrecklich das alles sei und dass man den Opferschutz stärken müsse. Gleichzeitig schlägt die Gegenseite mächtig zurück, und es ändern sich ja auch die Gewaltzahlen nicht. Ich habe keine Lust mehr, zu jammern und zu bitten: «Könnten wir vielleicht ein bisschen mehr Geld für die Frauenhäuser kriegen?» Mittlerweile denke ich: Es ist gewollt – wobei «gewollt» zu gross klingt. Aber diese Gewalt gegen Frauen ist stabilisierend für unsere Gesellschaft. Man braucht sie, um das patriarchale System – und man wagt es ja kaum noch auszusprechen, dass wir in einem patriarchalen System leben – zu stützen. Es braucht diese Gewalt, wie es ja auch Rassismus braucht in unserem Land, um das Ganze zu stabilisieren. In meinem Buch sehe ich mir das genauer an und frage: Welche Lösungen gibt es, wenn wir die frauenverachtende Gewalt abschaffen wollen?

Und natürlich gehen die Forderungen schon auch an die Männer: Hört auf! Es reicht nicht aus, persönlich nicht gewalttätig zu sein, es reicht auch nicht aus, zu sagen: «Ich mache ein bisschen mehr Care-Arbeit.» Wenn wir in einer anderen Gesellschaft leben wollen, dann muss es darum gehen, Privilegien abzugeben und tatsächlich zu schauen, an welchen Stellen wir aufgrund unseres Geschlechts immer noch in sehr anderen Lebensrealitäten stecken.

Sind Ihre Analysen nicht zu pessimistisch?

Ich höre das oft: «Sie übertreiben ja.» Neulich sagte mir eine Richterin, sie habe noch nie einen Übergriff erlebt. Darauf habe ich geantwortet: «Das ist ja schön, super, also ich kenne wirklich wenige. Aber dann sind Sie ja sicher auch eine von den Frauen, die nachts unbekümmert durch einen Park nach Hause gehen?» Also nein, auf keinen Fall würde sie das tun, das sei ja viel zu gefährlich, war ihre Antwort. Eben: Jede als weiblich gelesene Person kennt die unangenehme Situation, ganz egal welchen Alters. Und wir alle ermahnen unsere Töchter, nachts nicht alleine nach Hause zu gehen. Es ist eine absolute Selbstverständlichkeit, dass wir uns da Sorgen machen. Und das Verrückte ist, dass wir gar nicht mehr darüber nachdenken, warum das so ist.

Sie sagen, es fehle in Deutschland eine wirklich wütende feministische Bewegung. Aber Sie sind wütend, oder?

Ja, ich würde schon sagen, dass ich wütend bin, aber ich weigere mich, frustriert zu sein. Ich möchte nicht eine dieser alten Feministinnen sein, die sagen: «Es wird eh alles immer nur schlechter.» Worum geht es denn eigentlich? Wir müssen solidarisch miteinander sein, wir müssen darüber nachdenken, wie wir miteinander leben wollen. Wie können wir für alle eine Gesellschaft bauen, die sehr viel freier ist als diejenige, die wir haben? Und wie können wir gegen diesen zunehmenden Hass vorgehen? Darum geht es doch: füreinander zu sorgen, ja, wirklich sorgsam zu sein, wirklich solidarisch, sich wirklich diesem Hass entgegenzustellen. Vielleicht ist meine Analyse pessimistisch, aber meine Vorschläge sind optimistisch, denn ich bin überzeugt davon, dass wir in einer freieren Gesellschaft leben können.

Zum Buch : Unbeugsam gegen die Morde

Kein empörtes, aber ein empörendes Buch: Christina Clemm verbindet Fallbeispiele aus ihrem Alltag als Anwältin mit Gesellschaftsanalyse.

Es gibt Sätze in diesem Buch, die klingen wie gehämmert, wie gemeisselt. Nichts von dem, was Christina Clemm schreibt, ist wirklich neu, denn wir kennen das alles. Die Zahlen: Jede dritte Frau hat Gewalt erfahren. Die Mythen: Vielleicht sind manche der Opfer doch ein bisschen selbst schuld? Die Verdichtung aber, mit der hier auf 250 Seiten knapp dreissig Jahre Engagement und Berufspraxis zusammengefasst sind, klingt neu und macht das Buch mächtig, genauso wie seine klare, unbeugsame Haltung der Solidarität mit Gewaltopfern. «Das Private ist politisch, die Unantastbarkeit der Zweisamkeit gehört hinterfragt», steht da, oder: «Zum Zuschlagen, Töten, Misshandeln braucht es genau einen.» Oder: «Weshalb ist die Scham der Betroffenen immer noch grösser als die Angst der Täter?»

Obwohl sich in den letzten Jahren viel getan hat, was Sensibilität und Aufmerksamkeit und auch die Rechtsprechung betrifft, ändert sich an den Zahlen zu sexualisierter Gewalt wenig. Warum ist das so? Die Botschaft des Buches ist deutlich: Sexualisierte Gewalt geschieht nicht zufällig, sie ist strukturell angelegt in einer auf Geschlechterungleichheit basierenden Gesellschaft.

Clemm geht alle wichtigen Themen durch, sie beschreibt Vorurteile den Opfern gegenüber, Strategien der Täter, Gewaltspiralen. Dabei verbindet sie Fallbeispiele mit Gesellschaftsanalyse, auch das macht ihre Argumentation so stark. Sie hat als Anwältin endlos viele Geschichten gehört von «Kratzern, Bisswunden, Hämatomen und Knochenbrüchen, Zahn- und Hörverlusten, Säure- und Schussverletzungen, Verbrennungen und Stichwunden, Tritten in den Bauch», von Vergewaltigungen und Morden. Gehört hat sie auch die Verharmlosungen, die zu milden Urteile, die ignorante Häme, und erlebt hat sie eine eklatante Unterfinanzierung beim Opferschutz, aber auch bei den Polizeibehörden.

Frauenhass, so schreibt Clemm, sei eine Art «emotionaler Gewohnheit», und je länger man als Leser:in ihrem Buch folgt, desto bedrückender wird die Einsicht, wie tief verankert die Neigung ist, sexualisierte Gewalt als Privatsache abzutun, einfach wegzusehen. Als ginge uns das allerhöchstens indirekt etwas an. Falsch.

«Es gibt ein kollektives Trauma der Gewalt oder Gefährdung aller Frauen. Alle Frauen, alle trans Personen, alle non-binären Menschen kennen sie.» Auch das ist einer dieser Sätze.

Im Grunde ist «Gegen Frauenhass» kein empörtes, sondern ein empörendes Buch. Die Lektüre hinterlässt ein beklemmendes Gefühl, und gleichzeitig öffnet sie etwas. Christina Clemm bleibt nicht bei Anklage und Analyse stehen, immer wieder fügt sie konkrete Vorschläge ein, wie es anders gehen könnte, und sie beendet ihr Buch mit einer fünfseitigen Auf‌listung von Massnahmen, die Opfern helfen würden.

Denn es muss sich etwas ändern, Geschlecht darf kein Machtfaktor mehr sein. Im Katalog an Forderungen steht auch: «Seid wütend!», «Stört, stört, stört» und: «Feministische Männer, macht endlich mit.»

Buchcover «Gegen Frauenhass»
Christina Clemm: «Gegen Frauenhass». Berlin 2023. Hanser Verlag. 255 Seiten. 35 Franken.